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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 02.09.2003:

"Ein Test unter vielen eben"

Frankreich hatte seinen "PISA-Schock" bereits Anfang der 80er Jahre
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Chantal Roque

Bildung PLUS: In Frankreich ist die Ganztagsschule selbstverständlich. Deutschland will dem jetzt nacheifern. Hat Frankreich mit der Ganztagsschule bildungspolitische Weitsicht demonstriert?

Roques: Die Einführung der Ganztagsschule in Frankreich hatte natürlich nichts mit der heutigen bildungspolitischen Diskussion zu tun. Sie war eine Antwort auf die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse und hat sich in dieser Hinsicht in Frankreich bewährt. Damals sollte die Ganztagsschule Grundkompetenzen vermitteln und eine allen Schülern und Schülerinnen gemeinsame Bildung und Erziehung gewährleisten.

Diese Zielsetzung - für die damaligen Verhältnisse ein sehr ehrgeiziges Ziel - konnte aber nur erreicht werden, wenn die Kinder lange genug in der Schule sind. Dabei ging es nicht nur um Chancengleichheit, sondern auch um eine gemeinsame Bildung und Erziehung zum französischen Staatsbürger, die eine gemeinsame kulturelle Identität verbindet. 

Bildung PLUS: Aus heutiger Sicht: Ist die Ganztagsschule ein Allheilmittel?

Roques: Sicher nicht. Jede Organisation der Schule hat ihre Vor- und Nachteile; für ein Kind aus dem deutschen Bildungsbürgertum ist das bisherige deutsche Schulsystem viel besser geeignet für die eigene Entfaltung, Reife und Autonomie als eine Ganztagsschule. Die Halbtagsschule bietet diesen Kindern einen großen Freiraum, der von den Eltern und der Familie optimal genutzt werden kann.

Bildung PLUS: Das soll die Ganztagsschule eigentlich allen Kindern bieten...

Roques: Natürlich und sie bringt vor allem für sozial benachteiligte Schüler oder Kinder aus einem anderen Sprach- und Kulturraum Vorteile. Diese Kinder haben in der Ganztagsschule die große Chance, etwa in die Schulbibliotheken zu gehen, zu musizieren und überhaupt einmal gefördert zu werden.

Bildung PLUS: In Deutschland wird aber auch das Für und Wider einer Ganztagschule unter einem anderen Blickwinkel diskutiert. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und eine individuelle Förderung der Kinder erhoffen sich die Einen, als "staatliche Verwahranstalten" bezeichnen die Kritiker die Ganztagsschule. Wundern Sie sich über diese Diskussion?

Roques: Die Diskussion ist nicht typisch deutsch, ich würde sie eher als eine Debatte in Elitenkreisen bezeichnen, Eltern aus dem gehobenen Bildungsbürgertum, Leute, die studiert haben, eine gute Erziehung genossen haben, und die ihre Kinder nicht auf eine Ganztagsschule schicken müssen, um ihnen gerechte Bildungschancen zu sichern. Höchstens wenn sie alleinerziehend sind, könnte ihnen diese Schulform ermöglichen, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen.

Die wirklich Betroffenen kommen nicht zu Wort: Eine türkische Mutter, die kaum deutsch spricht, wird niemals an dieser Diskussion teilnehmen. Verglichen mit anderen europäischen Ländern findet die Diskussion um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf findet hierzulande immer noch kaum statt.

Aus der Sicht der Volkswirtschaft ist es jedoch pure Verschwendung, dass gut ausgebildete Frauen nach der Schwangerschaft über viele Jahre nur für Kind und Haushalt da sind. Die Debatte in Deutschland ist im Grunde ein Luxus, denn sie kreist allein um moralische und ideologische Werte und kaum um ökonomische und gesellschaftliche Notwendigkeiten.

Bildung PLUS: Deutschland gilt als das Land der Dichter und Denker. Hat das Ansehen Deutschlands seit dem schlechten Abschneiden bei PISA in Frankreich gelitten?

Roques: Überhaupt nicht, der Ruf Deutschlands als Land der Dichter, Denker und Musiker kann von einer punktuellen Fachuntersuchung, sei sie international und bildungspolitisch zweifellos relevant, gar nicht angetastet werden. PISA hat in Frankreich keinen Schock ausgelöst, wurde nicht mal groß zur Kenntnis genommen. Um das zu verstehen, muss man auf die Evaluierungskultur in Frankreich schauen. PISA ist ein Test unter vielen.

Evaluierung und Bildungsstandards, um die sich die aktuelle Diskussion in Deutschland dreht, sind in Frankreich seit Jahrzehnten an der Tagesordnung. Jedes Jahr werden alle möglichen Daten in den Schulen erfasst und verglichen und sämtliche SchülerInnen der ersten und der letzten Klassen eines jeden Zyklus machen schriftliche und z.T. mündliche Vergleichsarbeiten.

Unseren "PISA-Schock" hatten wir Anfang der 80er Jahre, als ein Bericht von Experten des französischen Bildungsministeriums die schlechten Leseleistungen der Schüler ans Tageslicht brachte. Wir wissen seitdem, dass die Leseförderung ein sehr wichtiges Thema ist. Es wurde Vieles erprobt, hinterfragt und nach Lösungen gesucht.

Bildung PLUS: Frankreich hat bei PISA trotz Ganztagsschule und Evaluation auch nicht glänzend abgeschnitten. Was wurde seitdem getan?

Roques: Ja, das stimmt, wir wissen aber sehr präzise weshalb! Es wurde weiter an den Verbesserungsvorschlägen gearbeitet, bzw. die schon eingeleiteten Maßnahmen wurden fortgesetzt. Zum Beispiel wurden die Übergänge zwischen Kindergarten und Grundschule bzw. Sekundarstufe I und II besser verzahnt.

Auch an der Leseförderung wurde weiter gearbeitet. PISA hat eher ein Problem beim Verständnis des Gelesenen als ein rein technisches Leseproblem zutage gefördert: Die Kinder können zwar lesen, aber verstehen oft den Inhalt nicht. Deshalb wurden alle Lehrer in die Pflicht genommen, sich unabhängig von ihrem Fach dieser Problematik anzunehmen.

Um nur ein Beispiel zu nennen: alle Lehrer einer Klasse werden nun aufgefordert, einander in der Lehrerkonferenz zu erklären, was sie unter bestimmten gängigen Begriffen wie z.B. "Problem", "Mitte", "Analyse", "Hypothese", "Kurve"  usw. verstehen. Wenn sie dann in ihrem Unterricht  polysemantische Wörter verwenden, achten sie darauf, dass keine Missverständnisse entstehen.

Bildung PLUS: Wo liegen weitere Schwächen des französischen Schulsystems?

Roques: Unsere Schüler sind nicht selbstständig genug. Trotz aller Bemühungen werden französische Schüler immer noch zuviel gegängelt. Und die Diskrepanz in der Wertschätzung der Fächer bleibt trotz einer langsamen Entwicklung weiterhin noch zu groß: So finden Musik, Kunst, Sport und die dritte Fremdsprache zu wenig Anerkennung.

Bildung PLUS: Sie kennen auch das deutsche Schulsystem sehr gut. Die Schwächen hat uns PISA deutlich vor Augen geführt. Gibt es aus französischer Sicht auch Positives in Deutschlands Schulen?

Roques: Selbstverständlich, wir lernen auch ständig vom deutschen System! Die berufliche Bildung in Deutschland gilt bei uns weiterhin als musterhaft. Positiv im deutschen Schulsystem ist auch das hohe Niveau des Abiturs. Das deutsche Gymnasium ist sehr anspruchsvoll. Darüber hinaus fällt mir auf, dass deutsche Gymnasiasten selbstständiger und meistens reifer sind als ihre französischen Altersgenossen.

Auf der anderen Seite ist es in meinen Augen ein Grund zur Besorgnis, wenn nur ein Drittel eines Jahrgangs überhaupt Abitur machen. Der PISA-Schock machte manchen deutschen Bürger zum ersten Mal darauf aufmerksam, was es bedeutet, die Kinder so früh auf drei Schulformen zu verteilen. Vor PISA haben viele Deutsche ihr Bildungssystem nicht grundsätzlich in Frage gestellt und meinten, das beste Bildungssystem der Welt zu haben.

In Frankreich ist die bildungspolitische Debatte ein fester Bestandteil unseres politischen Lebens und für die Franzosen ist es eine Selbstverständlichkeit, um ihre Schule zu kämpfen und notfalls auf die Strasse zu gehen. Ich finde, die aktuelle Debatte in Deutschland hochinteressant und sie kann nur positive Auswirkungen haben.

Bildung PLUS: Auch beim Thema Chancengleichheit soll die Ganztagsschule Abhilfe schaffen...

Roques: In den meisten Ländern mit Ganztagsschulen sind diese gleichzeitig Gesamtschulen und das Niveau ist deshalb niedriger - darüber brauchen wir gar nicht zu streiten. Aber dafür kompensieren diese Schulen die sozialen Unterschiede viel besser. In Deutschland findet keine Integration statt - das ist verheerend. Denn spätestens in zwanzig Jahren wird das große gesellschaftliche Probleme auftürmen. Denn von Chancengleichheit sind Deutschlands Schulen noch weit entfernt. 

Bildung PLUS: Sie kennen beide Bildungssysteme. Was können Franzosen und Deutsche voneinander lernen?

Roques: Vieles. In Deutschland ist die Schule offener, in Frankreich ist sie ein "Sanktuar": sie ist umzäunt und keiner kommt ohne Genehmigung hinein. Dies mag zwar gut sein für das Lernklima aber es fördert nicht die Integration der Schule in ihr soziales und wirtschaftliches Umfeld. In Deutschland kann die Diskussion um Bildungsstandards und Evaluierung nicht länger verschoben werden: für andere Länder ist es völlig selbstverständlich zu evaluieren.

Hierzulande wird zwar jedes Bundesland nicht müde zu betonen, dass es dies oder jenes besser macht als die anderen, aber eine echte Evaluierungskultur hat sich noch nicht etabliert. Bildung ist ein komplexes und heikles Thema, denn es betrifft jeden, unsere Gegenwart und unsere Zukunft. Eine gesunde Konkurrenz zwischen den Ländern, wie ich sie in Deutschland erlebe, das finde ich sehr positiv, aber die bloße  systematische Verteidigung der eigenen Positionen - das sieht von außen betrachtet schon ein wenig lächerlich aus, und es scheint mir etwas kurzsichtig.

Ein Problem bleibt in beiden Ländern aktuell: Bildung besteht nicht aus einer Addition von Fächern. Die Machtstellung der Fächer - in Frankreich einiger weniger Fächer - ist nach wie vor zu groß. Fächer sind kein Selbstzweck, sie haben sich meiner Meinung nach einem gesellschaftlichen Bildungsziel unterzuordnen.

Bildung PLUS: Sie sagen, Franzosen und Deutsche könnten voneinander lernen. Inwiefern sind beide Länder überhaupt vergleichbar?

Roques: Ich glaube, Deutschland und Frankreich können sehr viel voneinander lernen, vielmehr als von den meisten bei PISA bestplazierten Ländern, denn beide Länder haben ähnliche ethische, wirtschaftliche, soziale und geografische Strukturen, aber in den 100 letzten Jahren ganz andere bildungspolitische Lösungen gewählt.

Um nur einige Beispiele zu nennen, in Frankreich werden durch die Trennung von Staat und Kirche, durch die starke Zentralisierung, durch die Koexistenz von Privatschulen und öffentlichen Schulen sowie die flächendeckenden Ganztagsschulen und Gesamtschulen bis zur 10. Klasse ganz andere Voraussetzungen geschaffen als in Deutschland.

Dennoch sind die Probleme, die es heute zu lösen gilt, identisch: z. B. Leseförderung, Gewaltprävention, Erziehung zu Anstand und Benehmen und zu mehr bürgerlichem Engagement, Integration der Kinder, die in anderen Sprachen und Kulturen aufgewachsen sind, sinkendes Interesse für Mathematik und Naturwissenschaften, frühes Fremdsprachenlernen, Erziehung zum Umgang mit den Medien und den Kommunikationstechnologien, um nur einige zu nennen.

Bildung PLUS: Worin unterscheiden sich die Reformansätze in Frankreich und in Deutschland?

Roques: Es ist für mich faszinierend zu beobachten, wie beide Schulsysteme die gleichen Ziele verfolgen und dabei in jüngster Vergangenheit diese so unterschiedlichen Ausgangssituationen allmählich kompensieren, z. B. in Frankreich durch ein Gesetz und neue Maßnahmen zur Dezentralisierung, in Deutschland mit der Einführung von einheitlichen Bildungsstandards (EPA).

Im Bildungsbereich kann man keine allzu radikale Kursänderung vornehmen, die Entwicklungen und Änderungen können nur sehr behutsam durchgeführt werden. Um so interessanter ist diese deutliche, im Übrigen meist nicht ganz bewußte, Annäherung unserer beiden Länder in der jüngsten Vergangenheit.

Ich würde mir wünschen, daß noch mehr Austausch zwischen deutschen und französischen Bildungsexperten und Bildungspolitikern stattfindet, denn die Herausforderungen sind dieselben und das Lernen voneinander bringt uns viel weiter.

 

Chantal Roques, 54, ist stellvertretende Leiterin der Kulturabteilung der Französischen Botschaft in Berlin. Roques koordiniert die Aktion "France Mobil". Bis zum Ende der Aktion im Herbst 2004 werden dabei ca. 4500 Schulen mit über 200.000 Schülerinnen und Schülern besucht . Mit der Aktion sollen den jungen Menschen in Deutschland die französische Sprache und Kultur näher gebracht werden. Debütiert hat sie als Inspektorin im französischen Bildungsministerium.

Autor(in): Udo Löffler
Kontakt zur Redaktion
Datum: 02.09.2003
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